Bedienung Infotainmentsystems bei Tempo 200 – grob fahrlässige Herbeiführung des Versicherungsfall ?

Nach Auffassung des OLG Nürnberg handelt der Fahrer eines Mietwagens grob fahrlässig, wenn dieser bei Tempo 200 einen Unfall auf der Autobahn mit einem Mercedes CLS mit 557 PS verursacht, während er das Infotainmentsystem bedient. Wenn man sich nur die Überschrift dieses Urteils anschaut, ist der Leser geneigt, dem Senat zuzustimmen. Doch beim genaueren Hinsehen kommen doch Zweifel auf, ob das Urteil so richtig sein kann.

1. Was ist passiert?

In dem Berufungsverfahren vor dem OLG Nürnberg war die Klägerin eine Autovermieterin. Diese hatte mit dem beklagten Mieter am 13.04.2015 einen Mietvertrag über einen Wagen der Luxusklasse, einem Mercedes Benz CLS 63 AMG abgeschlossen. Der Beklagte war laut des Mietvertrages auch berechtigter Fahrer. Am 19.04.2015 ist der Fahrer abends unstreitig auf der linken Spur der Autobahn gefahren, während er das Infotainmentsystem bediente und kollidierte daraufhin mit der Mittelleitplanke und beschädigte dadurch das Mietfahrzeug.

Laut den AVB des Mietvertrages wäre die Klägerin berechtigt, ihre Leistungspflicht bei grober Fahrlässigkeit in einem der Schwere des Verschuldens entsprechenden Verhältnis zu kürzen.

Die Parteien streiten nun darüber, ob das Verhalten des Fahrers als grob fahrlässig zu werten ist.

Das OLG hatte die zentrale Frage zu klären, mit welcher Geschwindigkeit der Fahrer fuhr, während er durch das Bedienen des Infotainmentsystems für Sekunden abgelenkt war.

Um grobe Fahrlässigkeit anzunehmen, muss zum einen der objektive Tatbestand der groben Fahrlässigkeit vorliegen und zusätzlich subjektiv ein schlichtweg unentschuldbares Fehlverhalten bejaht werden (BGH, NJW 1992, 336; BGH, VersR 1989, 141).

Das Gericht stellt in seinem Urteil fest, dass das Bedienen des Infotainmentsystems während des Fahrens im Rahmen der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h allenfalls fahrlässig sei. Grob fahrlässig sei es jedoch, sich bei Tempo 200 nicht mehr ausschließlich auf das Fahren zu konzentrieren. Diese Aussage deckt sich im Wesentlichen mit dem Urteil des OLG Nürnberg vom 25.04.2005 (Az.: 8 U 4033/04).

2. Fehlerhafte Beweiswürdigung?

Um herauszufinden, bei welcher Geschwindigkeit der Wagen mit der Mittelleitplanke kollidierte, führte das OLG eine Beweisaufnahme durch und befragte hierzu ausschließlich den Beklagten sowie den Zeugen T., einen Angestellten der Klägerin.

Der Beklagte gab an, mit einer Geschwindigkeit von 130 km/h gefahren zu sein. Der Zeuge T. hingegen, der den verunfallten Wagen als Mitarbeiter der Klägerin am 19.04.2015 in Berlin entgegengenommen hatte, sagte aus, der Beklagte habe ihm gegenüber bei Rückgabe des Wagens eine Geschwindigkeit von 200 km/h angegeben. Die Klägerin hatte den Beweis zu führen, dass das Verhalten des Beklagten grob fahrlässig war.

Der Senat stützt seine Überzeugung allein auf die Aussage des Zeugen T., dass der Beklagte mit Tempo 200 fuhr. Der Zeuge T. sei aufgrund der Konstanz seiner Aussagen und dass dieser kein erkennbares Eigeninteresse am Ausgang des Verfahrens habe glaubwürdig.

Hierbei beachtet das Gericht nicht, dass der Zeuge T. zum einen erst knapp 6 Monate nach dem Unfallereignis erstmalig in einer internen Mail die Geschwindigkeit des Beklagten von 200 km/h erwähnte. Zum anderen war der Zeuge T. zum Zeitpunkt dieser Mail noch bei der Klägerin angestellt.

Auf der anderen Seite hat das Gericht keine überzeugenden Gründe genannt, warum der Beklagte unglaubwürdig sei. Der Senat stellte lediglich fest, dass der Beklagte mit den finanziellen Folgen des Unfalls konfrontiert worden sei und deshalb ein erhebliches Interesse an der Darstellung habe, lediglich 130 km/h gefahren zu sein. Es handele sich schlichtweg um eine unwahre Schutzbehauptung.

Das Gericht verlangte darüber hinaus, dass der Beklagte beweisen müsse, dass er dem Zeugen T. gegenüber nicht ausgesagt habe, mit Tempo 200 einen Unfall gehabt zu haben. Wie soll der Beklagte eine Nichtbehauptung beweisen? Andererseits wurde die Klägerin nicht gefragt, warum sie keinen neutralen Sachverständigen, der anhand der Unfallschäden Rückschlüsse auf die Höhe der Geschwindigkeit hätte machen können, als Beweis angeboten hat.

Ebenfalls nicht beachtet wurde, dass das Fahrzeug „nur“ auf der linken Seite beschädigt war. Der Senat stellt in seinem Urteil aber gleichzeitig fest, dass die kinetische Energie bei einer Kollision durch die Geschwindigkeitserhöhung auf Tempo 200 mehr als das 2,3fache gegenüber einer Kollision bei 130 km/h betrage. Zusammengefasst bedeute dies, dass bei derartig hohen Geschwindigkeiten schon minimale Fahrfehler nicht mehr korrigierbar verheerende Folgen haben können.

Diese Feststellung nutzt das Gericht lediglich zur Befürwortung der objektiv groben Fahrlässigkeit beim Bedienen des Infotainmentsystems bei Tempo 200. Das Gericht prüft nicht, ob anhand der tatsächlichen Schäden davon auszugehen ist, dass der Wagen mit Tempo 200 mit der Mittelleitplanke kollidierte. Unbestritten konnte der Beklagte nach der Kollision mit der Mittelleitplanke den Wagen an der Rückgabestation in Berlin zurückgeben. Es hatte sich offensichtlich nicht überschlagen, es wurde niemand verletzt, es musste nicht abgeschleppt werden. Es handelte sich unstreitig nur um eine Streifkollision. Das Ausbleiben der „nicht mehr korrigierbar verheerenden Folgen“ wurde nicht zugunsten des Beklagten berücksichtigt. Das fehlende Beweisangebot eines Sachverständigengutachtens der Klägerin hätte also zu Lasten der Klägerin gehen müssen.

Bei richtiger Beweiswürdigung hätte der Senat von einer Geschwindigkeit von 130 km/h ausgehen müssen. Eine objektiv grobe Fahrlässigkeit lag nicht vor.

3. Schlichtweg unentschuldbares Fehlverhalten?

Selbst ein schlichtweg unentschuldbares Fehlverhalten wäre abzulehnen gewesen. Das Gericht hat unbestrittene Tatsachen nicht berücksichtigt, die geeignet gewesen sind, das Verhalten des Klägers subjektiv zu entschuldigen.

Subjektiv entschuldbar ist es, wenn dem Beklagten gelegentlich Fehler unterlaufen, die auch sorgfältige Menschen nicht ausschließen können und die auf besondere subjektive Umstände zurückzuführen sind (Schimikowski/Schimikowski, Versicherungsvertragsrecht, 6. Aufl. 2017, Rn. 266).

Der Senat stellt fest, dass es sich bei dem verunfallten Mietfahrzeug um einen Wagen handelte, mit dem der Beklagte nicht vertraut gewesen ist. Bei dem Mietwagen handelt es sich um einen Mercedes Benz CLS 63 AMG. Dieser Wagen hat 557 PS und beschleunigt von 0 auf 100 km/h in nur 4,3 Sekunden (https://www.auto-motor-und-sport.de/fahrbericht/mercedes-cls-63-amg-fahrbericht-557-ps-bitten-zum-galopp/technische-daten/). Bereits ein unabsichtliches leichtes Treten auf das Gaspedal genügt, um eine hohe Beschleunigung zu erreichen. Darüber hinaus war der Mietwagen mit einem Spurhalteassistent ausgestattet. Der Beklagte erklärte, sich auf den Spurhalteassistent verlassen und deswegen seine Aufmerksamkeit kurz dem Infotainmentsystem gewidmet zu haben. Zu beachten ist auch, dass zum Unfallzeitpunkt unstreitig wenig Verkehr auf der Autobahn herrschte.

All diese besonderen subjektiven Umstände wurden nicht zugunsten des Beklagten gewürdigt. Der Senat erklärte, dass bei so hohen Geschwindigkeiten der Fahrer sich von nichts ablenken lassen dürfe. Danach wäre bei Tempo 200 also stets subjektiv grobe Fahrlässigkeit zu bejahen.

Das Urteil des OLG Nürnberg ist damit mehr als zweifelhaft.

 

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