Ist Rasen nur eine Flucht vor Dränglern?

Greift das menschliche Gehirn in akuten Gefahrsituationen reflexartig auf die Urinstinkte „Kampf oder Flucht“ zurück und ist eine „Flucht“ dann versichert, wenn es zum Schadenfall kommt? Im Fall des OLG München (10 U 500 / 16) vom 24.05.2019 fuhr der Besitzer eines brandneuen Porsche 911 Carrera mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit vor einem Audi R8 davon – angeblich um sein Auto vor einer drohenden Kollision mit dem Drängler zu schützen. Auf einer Landstraße in der Nähe von Neunkirchen-Seelscheid (Rhein-Sieg-Kreis) fuhr der Porschefahrer mit mindestens 140 km/h in einer 70er-Zone, bevor er in einer Rechtskurve mit dem Gegenverkehr kollidierte. Als Grund für die überhöhte Geschwindigkeit gab der Porschefahrer bei seinem Versicherer an, er habe sich von dem Audifahrer bedrängt gefühlt, der immer dichter an seinen Porsche aufgefahren sei. Mit circa 100 km/h brach der Porsche dann in der Kurve aus und prallte gegen ein entgegenkommendes Fahrzeug. Beide Fahrer wurden schwer verletzt; der verunfallte Porschefahrer machte anschließend 82.217,05€ nebst Zinsen bei seiner Kaskoversicherung geltend. Der Versicherer berief sich auf Leistungsfreiheit wegen des Risikoausschluss „Rennen“ und weil der Versicherungsfall vorsätzlich herbeigeführt worden sei.

Der Risikoausschluss „nicht genehmigte Rennen“

Gemäß D.1.1.4 AKB darf das Fahrzeug nicht zu Fahrveranstaltungen verwendet werden, bei denen es auf die Erzielung einer Höchstgeschwindigkeit ankommt (Rennen).

Auszug AKB 2015

Der Begriff des „Rennens“ ist weit gefasst. So gilt der Risikoausschluss nicht nur für Rennen im sportlichen Sinne, sondern für Rennen jeder Art. Hierunter fallen Geschwindigkeits-, Touren-, Sternfahrten u.ä., solange es um die Erzielung der höchsten Geschwindigkeit geht.

Das Wegfahren vor einem anderen Fahrzeug allerdings, um sich von ihm und der von ihm drohenden Gefahr abzusetzen, zielt nach Auffassung des Gerichts eben nicht auf das Erreichen einer Höchstgeschwindigkeit ab. Vielmehr kam es dem Fahrer nur darauf an, mindestens so schnell wie sein Verfolger zu sein, um einen drohenden Schaden zu vermeiden.

Weiterhin erfordert der Risikoausschluss auch wörtlich das Vorliegen einer „Veranstaltung“, die mindestens stillschweigend zwischen den Parteien vereinbart worden sein muss. Eine solche Vereinbarung konnte das OLG München nach Würdigung der Beweisvorträge und Zeugenaussagen nicht feststellen. Beide Fahrzeuge fuhren dem äußeren Erscheinungsbild nach zwar sehr schnell, aber auch klar hintereinander auf derselben Spur („Ich würde sagen, die beiden Fahrzeuge waren so nah aufeinander, wie wenn der Porsche den Audi abgeschleppt hätte“). Ein für ein Rennen typischer Überholversuch des Audis konnte nicht festgestellt werden. Das Gericht kommt insoweit zu dem Schluss, dass es dem Porschefahrer nicht auf die Erzielung einer Höchstgeschwindigkeit ankam und auch keine Fahrveranstaltung im Sinne des Risikoausschlusses vorliegt.

 

Vorsätzliches Herbeiführen des Versicherungsfalls
Führt der Versicherungsnehmer einen Versicherungsfall vorsätzlich herbei, so bleibt der Versicherer nach § 81 Abs. 1 VVG leistungsfrei. Vorsätzlich handelt derjenige, der wissentlich und willentlich vorgeht. Hierfür muss der VN sich nach ständiger Rechtsprechung des BGH sowohl des Ausmaßes seiner Handlung bewusst gewesen sein und auch die möglichen Folgen seiner Tat billigend in Kauf genommen haben. Eine Billigung kann vorliegen, wenn ein Vorhaben trotz starker Gefährdung durchgeführt wird, ohne dass man auf einen glücklichen Ausgang vertrauen kann, und es entsprechend dem Zufall überlässt, ob sich die erkannte Gefahr verwirklicht oder nicht (Eventualvorsatz). Eben diesen bedingten Vorsatz warf der Versicherer seinem Versicherungsnehmer vor, der die Geschwindigkeitsbegrenzung wissentlich und willentlich überschritt und damit das Wegdriften und insbesondere die daraus resultierende Beschädigung am Fahrzeug billigend in Kauf genommen haben soll. Im vorliegenden Fall setzt die Annahme des bedingten Vorsatzes also voraus, dass der Porschefahrer das Risiko eines Unfalls ernsthaft für eintrittsfähig gehalten haben muss und sich mit der möglichen Verwirklichung auch abgefunden haben müsste.

Dabei kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an. Das Wissenselement des Vorsatzes hängt vorrangig vom Handlungsziel des Verursachers ab. Der VN gab hierzu an, dass er dachte, er schaffe die Kurve durch eine Verringerung der Geschwindigkeit. Der Vorwurf des bedingten Vorsatzes scheitert also allenfalls daran, dass der Porschefahrer die Unfallgefahr eben nicht billigend in Kauf genommen hatte, sondern ihr durch die Gaswegnahme sogar noch entgegenwirken wollte und auf einen guten Ausgang vertraute. Dass der Fahrfehler schlussendlich kausal zur Kollision mit einem entgegenkommenden Fahrzeug führte, konnte der VN mangels Rennsporterfahrung zum Zeitpunkt des Unfalls nicht absehen und demzufolge auch nicht die möglichen Folgen billigend in Kauf genommen haben. Der Senat glaubt daher dem VN, dass er nicht wollte, dass ein Schaden entsteht und er darauf vertraute, die Kurve durchfahren zu können.

 

Würdigung der Entscheidung
Der Entscheidung OLG München ist zuzustimmen. Das Gericht betont zurecht, dass der Risikoausschluss „Rennveranstaltung“ nur dann greift, wenn die beteiligten Parteien auch eine solche Veranstaltung vereinbart haben und es hierbei um die Erzielung einer höchsten Geschwindigkeit ankommt. Die Versuche von Verkehrsteilnehmern an anderen Verkehrsteilnehmern vorbei zu fahren, und die Gegenhandlung der jeweilig anderen Verkehrsteilnehmer eben dies zu verhindern sind, selbst wenn es unter Verletzung der Vorschriften der StVO fällt, nicht als „Veranstaltung“ zu werten, sondern allenfalls als privates „Kräftemessen“ zu verstehen.

Das Gericht differenzierte des Weiteren bedingt vorsätzliches von bewusst fahrlässigem Verhalten bei Unfällen mit Geschwindigkeitsüberschreitung. Das vorsätzliche Überschreiten von maximal zulässigen Höchstgeschwindigkeiten im Straßenverkehr erlaubt nicht pauschal die Annahme, dass ein Unfall billigend in Kauf genommen wurde. Vielmehr muss auf die Einzelumstände abgestellt werden. Führt der VN in Anbetracht der drohenden Gefahr Schutzhandlungen aus, die ihn auf einen guten Ausgang vertrauen lassen, so fehlt es an der für Vorsatz notwendigen Billigung der Verwirklichungsgefahr des Risikos. Das OLG München schließt sich hier der ständigen Rechtsprechung des BGH an.

 

Auswirkungen auf die Praxis
Die Entscheidung verdeutlicht, dass eine strafrechtliche Verurteilung nicht zwangsläufig zum Verlust des Versicherungsschutzes führt. Obgleich der Porschefahrer in einem vorangegangen Verfahren strafrechtlich bereits zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung, zwei Jahren Fahrverbot und einer Strafzahlung von circa 30.000€ verurteilt wurde, erhält er dennoch volle Leistung über 82.217,05€ nebst Zinsen von seinem Versicherer. In der Praxis wird es für verunfallte Autofahrer daher regelmäßig hilfreich sein, sich auf einen von hinten kommenden Dränger berufen zu können, vor dem man sich schützen wollte. Ebenfalls denkbar in derartigen Fällen wäre ein Anspruch gegen den Versicherer wegen Vorliegens einer Rettungshandlung (Ausweichen vor dem Drängler) nach den §§ 83, 90 VVG. Dies könnte beim Porschefahrer etwa dann vorliegen, wenn er beweisen kann, dass das Wegfahren dem Verhindern des unmittelbar und unweigerlich bevorstehenden Versicherungsfalls (Zusammenstoß mit dem Drängler) galt.

2 Gedanken zu „Ist Rasen nur eine Flucht vor Dränglern?“

  1. Im Nachhinein festzulegen, ob drängelnde Fahrzeuge lediglich als Ausrede verwendet werden, mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren zu sein, ist oft schwierig. Oft kann das Rasen nämlich mit verschiedenen Erklärungen begründet werden, damit die Versicherung die Kosten des entstandenen Schadens nach einem Unfall übernimmt. Mehr Kenntnisse darüber, welche Strafen nach zu schnellem Fahren mit Unfallfolge drohen, hat ein Anwalt für Strafrecht.

    Antworten
  2. Ein recht fragwürdiges Urteil. Es gäbe ja auch noch die Möglichkeit, dem drohenden Drängler zu entkommen, indem man ihn einfach vorbei lässt. Das geht, auch mit einem Porsche. Oder hatte der Fahrer die begründete Angst, aus dem vorbeifahrenden Audi erschossen zu werden?
    Durch eine drastische Reduzierung der Geschwindigkeit könnte man auch das Geschwindigkeitsniveau dem vorhandenen Abstand anpassen. Oder ist das dann schon Nötigung?
    Nach meinem persönlichen Rechtsempfinden ist ein Mensch, der sich durch die geschilderte Situation zu einer extrem überhöhten Geschwindigkeit verleiten lässt, zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar