„Finger weg von meinem digitalen Fahrzeugspeicher!“ – Aufklärungsverweigerung nach einem Kaskoschaden

 

Ein Versicherungsnehmer verstößt gegen seine vertragliche Aufklärungsobliegenheit, wenn er sich nach einem Kaskoschaden weigert, den Fahrzeugdatenspeicher seines Kfz vom Versicherer auslesen zu lassen, sofern der Kaskoversicherer an der Auslesung der Daten ein berechtigtes Interesse hat, weil die Daten Rückschlüsse erlauben, ob es sich um ein manipuliertes Schadensereignis handelt oder nicht. (Entscheidung LG Köln, Urteil vom 26.03.2020 – 24 O 236/19)

 

Problemstellung

Die Digitalisierung hat weitreichende Auswirkungen auf den Automobilsektor. Sensoren, digitale Datenverarbeitung und -kommunikation ermöglichen neue Funktionen, die das Autofahren sicherer, komfortabler und effizienter machen. Bei Mercedes heißt das System beispielsweise „me connect, bei Volkswagen „Car-Net“ oder bei Audi „Audi connect“. Diese Daten gewinnen für Dienstleister rund um das Auto aber auch für Versicherer zunehmend an wirtschaftlicher Bedeutung. Die von den Fahrzeugen generierten Datensätze ermöglichen den Versicherern z.B. Einblick in die Veränderungen der Sitzposition und damit jeden Fahrerwechsel oder auch das Auslesen von Fehlerspeichern und Fahrassistenzsysteme, die sich alle Ausfälle, Betriebsfehler und ungewöhnliche Fahrmanöver inkl. Kilometerstand und Tempo merken und sogar Straßenzustandsdaten speichern können. Die Daten erlauben somit Rückschlüsse auf den Fahrstil des jeweiligen Fahrers (vgl. ADAC Motorwelt, Positionspapier „Wettbewerb, Sicherheit und Transparenz: Daten im vernetzten Fahrzeug, 19.02.2020, https://www.adac.de/-/media/pdf/motorwelt/daten-im-auto-2003.pdf?la=de-de&hash=F15712CEA759BA3BABD9B7EFC13CD8A6 ).

Fraglich ist, ob ein Versicherungsnehmer nach einem Schadenfall verpflichtet ist, dem Versicherer das Auslesen dieser Daten zu erlauben, damit dieser die Angaben des Kunden und damit seine Leistungspflicht prüfen kann.

 

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Ein Versicherungsnehmer kam mit seinem hochmotorisierten Audi A8 bei Schneeregen auf einer Landstraße ohne Fremdeinwirkung von der Fahrbahn ab und touchiert die Leitplanke auf der linken und rechten Seite, wobei am Fahrzeug ein Schaden in Höhe von 15.389 Euro entstand. Der Versicherungsnehmer gab an, dass er in einer Linkskurve nach links auf die Gegenfahrbahn abgekommen ist, weil der dadurch abgelenkt gewesen war, dass er sich reflexartig nach einem USB-Stick gebückt habe, der ihm gerade zuvor in den Fußraum gefallen gewesen sei.

Zur Rekonstruktion des Unfalls wurde ein Sachverständiger eingeschaltet, der zu dem Ergebnis gelangte, dass ein Ausbrechen des Fahrzeuges aufgrund der vorhandenen Fahrassistenzsysteme nicht erklärbar sei. Eine vom Kaskoversicherer erbetene Zustimmung zum Auslesen der Daten der elektronischen Hilfs- und Assistenzsysteme verweigerte der Versicherungsnehmer, weil der Versicherer nach seiner Ansicht aus diesen Daten Rückschlüsse auf sein Fahrverhalten ziehen könnte. Einige Tage später verkaufte der Versicherungsnehmer den Audi A 8 unrepariert nach Polen, weil er dringend Geld benötigte. Zum Käufer hat er keinen Kontakt mehr.

Der Versicherer lehnte daraufhin eine Regulierung ab, da die Indizien für ein manipuliertes Unfallereignis mit einer vorsätzlichen Herbeiführung des Versicherungsfalls sprechen. Aus technischer Sicht bestehen erhebliche Bedenken gegen den behaupten Unfallhergang. Durch die vorhandenen Assistenzsysteme und das ESP sei ein Ausbrechen des Fahrzeuges ausgeschlossen. Da der Versicherungsnehmer eine Auslesung der Daten verweigert habe, sei eine Rekonstruktion des Fahrverhaltens und die Prüfung der Funktionstüchtigkeit der Assistenzsystem und elektronischen Fahrhilfe nicht möglich. Die Verweigerung stellt eine arglistige Verletzung der vertraglichen Pflichten nach dem Versicherungsfall dar, die zum vollständigen Verlust des Kaskoversicherungsschutzes führt. Das LG Köln ist der Auffassung des Versicherers gefolgt und hat die Klage des Versicherungsnehmers abgewiesen.

 

Kontext der Entscheidung

Die Versicherungsbedingungen der Versicherer enthalten sog. Obliegenheiten. Obliegenheiten sind Pflichten, die jeder Versicherungsnehmer z.B. nach einem Schadenfall zu beachten hat, um seinen Leistungsanspruch gegen-über dem Versicherer nicht zu verlieren. Der Kunde hat in der Kaskoversicherung u.a. eine Aufklärungspflicht zum Hergang und zum Umfang des Schadens (Ziffer E.1.1.3 AKB) und die Pflicht, das Fahrzeug nicht ohne Zustimmung des Versicherers zu verkaufen oder reparieren zu lassen (Ziffer E.1.3.2 AKB). Der Versicherungsnehmer muss dem Versicherer Untersuchungen zu den Umständen des Schadenereignisses sowie zu seiner Leistungspflicht ermöglichen, soweit ihm dies zumutbar ist.

Sinn der Obliegenheiten nach einem Schadenfall ist es, den Versicherer in die Lage zu versetzen, sachgemäße Entschließungen über die Behandlung des Versicherungsfalls zu treffen, aber auch Verdachtsmomenten nachzugehen, die gegen die Berechtigung der geltend gemachten Forderungen sprechen könnten. Der Versicherungsnehmer muss auf Verlangen auch solche Tatsachen wahrheitsgemäß offenbaren, die nicht in seinem Interesse liegen, etwa weil sie dem Versicherer erst ermöglichen, sich auf seine Leistungsfreiheit zu berufen (vgl. Stiefel/Maier/Maier, 19. Aufl. 2017, AKB 2105 Rn. 33; BGH VersR 2000, 222).

Der Versicherer hat ein auf der Hand liegendes Interesse für die Auslesung der Fahrzeugdaten, da diese Hinweise auf mögliche technische Fehler geben können, ob es sich um ein manipuliertes Schadenereignis handelt oder nicht. Weigerte sich ein Versicherungsnehmer, die Elektronik seines Fahrzeuges vom Versicherer untersuchen zu lassen, weil er befürchtet, dass der Versicherer so Erkenntnisse über seinen Fahrstil erlangen könnte, will er damit erkennbar Einfluss auf die Regulierungsentscheidung des Versicherers nehmen, da er die Prüfung der Schadenbearbeitung aufgrund einer verringerten Tatsachenbasis für sich unkomplizierter und zügiger gestalten will. Das erfüllt den Tatbestand der Arglist. Bei Arglist ist jeder Versicherer leistungsfrei. Die vom Gesetzgeber für den Versicherungsnehmer – als schwächere Partei – vorgesehenen verschuldensabhängigen Schutzrechte bei Verletzung von Obliegenheiten gelten nicht für den arglistig handelnden Versicherungsnehmer. Dies ergibt sich aus besonderen Verwirkungsklauseln in den Versicherungsbedingungen (z.B. Ziffer D.2.2 AKB), aus den gesetzlichen Regelungen des § 28 Abs. 3 S. 2 VVG und auch aus den Verwirkungstatbeständen des § 242 BGB, wenn dem Versicherer ein Festhalten am Vertrag unzumutbar ist.

Wäre die Verweigerung nicht arglistig, sondern nur vorsätzlich erfolgt, also zwar bewusst, aber ohne die Absicht, die Regulierung zu beeinflussen, dürfte die Verweigerung nicht ursächlich (kausal) für die den Eintritt des Versicherungsfalls oder die Feststellung oder den Umfang der Leistungspflicht sein, damit der Versicherungsnehmer einen Leistungsanspruch hat. Diesen sog. Kausalitätsgegenbeweis muss nach dem Willen des Gesetzgebers der Versicherungsnehmer führen. Verkauft ein Versicherungsnehmer das Unfallfahrzeug, ohne dass es nach dem Verkauf weiterhin für eine Untersuchung zur Verfügung steht, hat er nicht nur gegen die Weisungsobliegenheit (Ziffer E.1.3.2 AKB) verstoßen, sondern er ist schlicht nicht mehr in der Lage, den Beweis dafür zu führen, dass seine Auskunftsverweigerung nicht ursächlich ist.

 

Auswirkungen auf die Praxis

Der Entscheidung des LG Köln ist zuzustimmen. Ist ein Auslesen des Fahrzeugdatenspeichers technisch problemlos durch den Versicherer möglich, ist es für den Versicherungsnehmer nicht unzumutbar, wenn der Versicherer davon Gebrauch macht. Ein (unredlicher) Versicherungsnehmer, der dies verhindern möchte, könnte sich lediglich ein Fahrzeug ohne Fahrzeugdatenspeicher kaufen. Für den redlichen Versicherungsnehmer kann das Auslesen des Fahrzeugdatenspeichers in der Praxis eine große Beweisfunktion für den Nachweis des Schadenhergangs haben, den der Versicherungsnehmer sonst ggf. nur schwer führen könnte.

Das Urteil des LG Köln ist, soweit erkennbar, die erste Entscheidung zum Auslesen von Fahrzeugdatenspeicher und dürfte, wenn der Senat das Urteil im Berufungsverfahren bestätigt, eine Leitfunktion für alle Kaskoschadenfälle mit Fahrzeugen, die einen elektronischen Fahrzeugdatenspeicher besitzen, haben.

 

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