Wieso werden überhaupt Versicherungen nachgefragt, obwohl der Erwartungswert bei fast jeder Versicherung negativ ist? Dies liegt daran, dass sich das menschliche Risikoverhalten nicht einfach nach Erwartungswerten richtet. Vielmehr ist das Risikoverhalten als Kern des Versicherns diversen Einflüssen unterlegen.
Das Risikoverhalten ergibt sich daraus, wie ein Risiko wahrgenommen wird (Risikowahrnehmung) und inwiefern dieses Risiko eingegangen oder vermieden wird (Risikobereitschaft). Hinzu kommen auch noch intervenierende Einflüsse wie beispielsweise die aktuelle Situation, unter der das Risiko bewertet wird.
Risikowahrnehmung
Ein Risiko wahrzunehmen ist die Basis dafür, über Versicherungsschutz nachzudenken. Nur wer beispielsweise das Risiko erkennt, aufgrund einer Berufsunfähigkeit einen finanziellen Schaden zu erleiden, wird über den Kauf einer Berufsunfähigkeitsversicherung nachdenken.
Einerseits spielt die Leichtigkeit, mit der bestimmte Informationen im Gedächtnis abgerufen werden können, eine wichtige Rolle für die Einschätzung von Risiken. Andererseits erfolgt die Wahrnehmung von Risiken aber keinesfalls nach der objektiven Verfügbarkeit bzw. dem Erwartungswert.
Der so genannten Gewichtungsfunktion der von Daniel Kahneman und Amos Tversky entwickelten Neuen Erwartungstheorie (Prospect Theory) zufolge werden Wahrscheinlichkeiten systematisch verzerrt wahrgenommen. So werden mittlere und hohe Wahrscheinlichkeiten untergewichtet, während geringe Wahrscheinlichkeiten (= seltene Ereignisse) tendenziell übergewichtet werden.
Risikobereitschaft
Die Risikobereitschaft spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle, um die Versicherungsmärkte zu verstehen (vgl. Müller-Peters, 2015,Behavioral Insurance – Schwerpunktbeitrag Gabler-Versicherungslexikon, S. 3). Denn die Bereitschaft, ein Risiko einzugehen, oder die Motivation, dieses zu mindern oder sogar zu vermeiden, hat wesentlichen Einfluss auf die Nachfrage von Versicherungsschutz.
Die Entscheidung, ob ein Risiko an einen Versicherer übertragen wird (beispielweise die Übertragung des finanziellen Risikos aus einer möglichen Berufsunfähigkeit auf den Versicherer durch Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung) oder nicht, hängt neben der Wahrnehmung des Risikos (hier: Berufsunfähigkeit) in einem zweiten Schritt von der Risikobereitschaft ab: Möchte ich gegen Zahlung von Versicherungsprämien im Gegenzug eine Absicherung im Falle des Falles haben? Oder lasse ich es darauf ankommen, dass ich nicht berufsunfähig werde?
Bei Wahl der ersten Variante liegt eine Risikoaversion in Bezug auf den Erwartungswert vor: Es besteht der Wunsch, das Risiko durch Übertragung auf den Versicherer zu minimieren, obwohl der monetäre Erwartungswert dadurch sinkt. Bei der zweiten Variante liegt eine gewisse Risikofreude vor: Es besteht die Bereitschaft, das Risiko einzugehen.
Dass bei den Akteuren des Versicherungsmarktes nicht grundsätzlich eine Risikoaversion besteht, lässt sich durch die Erkenntnisse aus der neuen Entscheidungstheorie (Prospect Theory) von Kahneman und Tversky erklären.
Neue Erwartungstheorie (Prospect Theory)
Im Gegensatz zur klassischen Entscheidungstheorie geht die Neue Erwartungstheorie nicht davon aus, dass Menschen grundsätzlich risikoavers handeln.
Vielmehr hängt die Risikobereitschaft davon ab, ob eine Entscheidung zwischen potentiellen Verlusten oder potentiellen Gewinnen getroffen werden muss.
Den Kern der neuen Erwartungstheorie lässt sich in der so genannten Wertefunktion abbilden:
Drei Prinzipien sind hier von Bedeutung:
- Referenzpunktbezogenheit
- Abnehmende Empfindlichkeit
- Verlustaversion
Referenzpunktbezogenheit
Die Definition eines Gewinnes oder eines Verlustes wird durch den so genannten Referenzpunkt bestimmt (in der Grafik der Nullpunkt), der sich in Bezug auf finanzielle Entscheidungen als „Status quo“ bezeichnen lässt. Gewinne liegen oberhalb und Verluste unterhalb des Referenzpunktes (vgl. Kahneman, 2014, Schnelles Denken, langsames Denken, S. 347).
Abnehmende Empfindlichkeit
Der s-förmige Verlauf der Kurve bedeutet, dass Gewinne und Verluste eine abnehmende Empfindlichkeit aufweisen. Gewinne und Verluste werden ins Verhältnis zum aktuellen Vermögen (= Referenzpunkt) gesetzt. Je kleiner Vermögensveränderungen sind, desto schwerer ist ihr relatives Gewicht (vgl. Kahneman, 2014, Schnelles Denken, langsames Denken, S. 347).
Verlustaversion
Schaut man genauer hin, wird deutlich, dass der Graph nicht symmetrisch ist. Die Steigung nimmt ab dem Referenzpunkt plötzlich ab. Dies bedeutet nichts anderes, als dass Verluste stärker empfunden werden als Gewinne (Verlustaversion) (vgl. Kahneman, 2014 München, Schnelles Denken, langsames Denken, S. 349).
Die Verlustaversion ist ein entscheidender Faktor beim Thema „Versicherung“. Sie ist oftmals Auslöser dafür, dass eine Versicherung abgeschlossen wird. Aber auch bei der Entscheidung für eine Produktvariante spielt sie eine wichtige Rolle. So lässt sich mit ihr erklären, dass für viele Personen Sicherheit Vorrang vor Rendite hat, das heißt, klassische Rentenversicherungen mit einer Garantieverzinsung werden weitaus stärker nachgefragt als fondsgebundene Rentenversicherungen (vgl. Lazic, 2013 Dresden, Präsentation: Charakteristika der Lebensversicherung und ausgewählte aktuelle Herausforderungen, S. 14).
Das Viergeteilte Muster und die Einordnung von Versicherung
Das viergeteilte Muster stellt ein bestimmtes Präferenzmuster dar, das sowohl die Tatsache berücksichtigt, dass Individuen Gewinnen und Verlusten vielmehr einen Wert zuordnen als dem Vermögen, als auch das Phänomen, dass die Entscheidungsgewichte, die Individuen Ergebnissen beimessen, nicht dem Erwartungswert entsprechen. Zwei Effekte stehen hier im Mittelpunkt:
- Möglichkeitseffekt
- Sicherheitseffekt
Möglichkeitseffekt
Beim Möglichkeitseffekt wird eine Veränderung von einer 0%igen Wahrscheinlichkeit auf eine geringe Wahrscheinlichkeit völlig überbewertet. Gewinne und Verluste werden möglich gemacht, wenn auch mit einer geringen Wahrscheinlichkeit. Dies ist aber genau der Grund, warum der Abschluss bestimmter Versicherungen attraktiv erscheint. Nämlich solche Versicherungen, bei denen der Eintritt des Versicherungsfalls äußerst gering, der potentielle Schaden aber hoch ist. Durch den Abschluss der Versicherung möchte man sichergehen, nicht diesen hohen Schaden zu erleiden und ist bereit, dafür eine entsprechende Prämie zu bezahlen.
Bei potentiellen Gewinnen verhält es sich genau anders herum: Die Risikoaversion, die noch bei potentiellen Verlusten vorlag, wandelt sich in Risikofreude um.
Sicherheitseffekt
Der Sicherheitseffekt besagt, dass Ergebnisse, die (nur) fast sicher sind, geringer gewichtet werden als ihre tatsächliche Wahrscheinlichkeit (vgl. Kahneman, 2014,Schnelles Denken, langsames Denken, S. 382). Hier strebt der Mensch nach Gewissheit.
Beurteilung von Versicherungsprämien
Die zuvor dargestellten Effekte bestimmen auch, wie Versicherungsprämien beurteilt werden.
So können Versicherungsprämien als “sicherer geringer Verlust“ verstanden werden und der Nichtabschluss einer Versicherung als ein Verlust, der nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit eintreten wird.
Versicherungsprämien können aber auch als „Preis“ aufgefasst werden, der gezahlt wird, um in eine bessere Risikosituation versetzt zu werden. Das heißt, durch Zahlung der Prämie wird die Wahrscheinlichkeit, einen Verlust zu erleiden, gesenkt oder sogar eliminiert.
Deductible effect
Oftmals kann es sich für einen Versicherungsnehmer lohnen, einen höheren Selbstbehalt einzuschließen, um eine günstigere Prämie zahlen zu können. Dennoch bevorzugen viele Entscheider Versicherungen mit geringer oder gar keiner Selbstbeteiligung (vgl. Shoemaker/Kunreuther, Journal of Risk and Insurance, Vol. 46, 1979, S. 606).
Weiterführende Literatur & Quellen:
- Kahneman, D.: Schnelles Denken, langsames Denken, 1. Auflage, München: Siedler Verlag, 2012.
- von Nitzsch, R. (2011): Entscheidungslehre – Wie Menschen entscheiden und wie sie entscheiden sollten, 6. überarbeitete Auflage, Aachen: Wissenschaftsverlag Mainz.
- Müller-Peters, H.:Dumme Master, schlaue Master – Von Risikoeinschätzung und Risikowirklichkeit; XXIII. Kölner Versicherungsspitzen, Newsletter des Instituts für Versicherungswesen, Juni 2014, S. 3-4 ; https://www.th-koeln.de/mam/downloads/deutsch/hochschule/fakultaeten/wirtschafts_und_rechtswissenschaften/201606_ivw_nl.pdf
Zum Thema Kontrollillusion und Überoptimismus:
- Fenton-O’Creevy, M., Nicholson, N. und Soane, E., Willman, P: Trading on illusions – Unrealistic perceptions of control and trading performance, in: Journal of Occupational and Organisational Psychology 76, 2003, S. 53-68.
- Langer, Ellen J.: The Illusion of Control, in: Journal of Personality and Social Psychology, Vol. 32 (2), Aug 1975, S. 311-328.
- Vallone et al.:The overconfident prediction of future actions and outcomes by self and others, in: Journal of Personality and Social Psychology 58, 1990, S. 582-592.
- Referat Selbstüberschätzung
Zum Thema Prospect Theory:
- Kahneman, Daniel; Tversky, Amos: Prospect Theory – An Analysis of Decision under Risk, in: Econometrica, Band 47, 1979, S. 263-292.
- Theil, Michael: Versicherungsentscheidungen und Prospect Theory – die Risikoeinschätzung der Versicherungsnehmer als Entscheidungsgrundlage, Wien: Springer Verlag, 2002.
- Davidson, Lee (2012): Wenn Verluste stärkere Schmerzen machen als Gewinne Freude – Die Verlustaversion zählt zu den wichtigsten Verhaltensmustern von Anlegern, in: morningstar.de, http://www.morningstar.de/de/news/43016/wenn-verluste-st%C3%A4rkere-schmerzen-machen-als-gewinne-freude.aspx, Zugriff am 15.05.2015.
- de (2013): Verlustaversion – Bloß nichts verlieren, in: zeit,de, http://www.zeit.de/2013/46/verlustaversion-verhaltensoekonomie, Zugriff am 15.05.2015.
Einsatz im Risikomanagement:
- Prokop, Jörg: Operationelles Risiko und Behavioral Finance, in: solvency-ii-kompakt.de, http://www.solvency-ii-kompakt.de/content/operationelles-risiko-und-behavioral-finance, Zugriff am 15.05.2015.