„Unfallflucht“, Wartezeit und Obliegenheitsverletzung

Das OLG Dresden hatte die Frage zu klären, ob ein VN, der gem. § 142 Abs. 1 StGB an der Unfallstelle gewartet hat versicherungsrechtlich alles Erforderliche getan hat oder ob er entsprechend § 142 Abs. 2 StGB nachträglich weitere Feststellungen ermöglichen und den VR benachrichtigen muss.

Problematisch ist, dass E.1.1 e AKB 2015 eine derartige Pflicht nicht ausdrücklich vorsieht. Die Klausel lautet:

Sie müssen alles tun, was zur Aufklärung des Versicherungsfalls und des Umfangs unserer Leistungspflicht erforderlich ist. Sie müssen dabei insbesondere folgende Pflichten beachten:

Sie dürfen den Unfallort nicht verlassen, ohne die gesetzlich erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen und die dabei gesetzlich erforderliche Wartezeit zu beachten (Unfallflucht).

Das OLG Dresden liest diese Klausel so, dass sich die versicherungsrechtliche Pflicht des VN auf die Einhaltung der Wartezeit beschränkt.

Im zu entscheidenden Fall geriet der VN in den frühen Morgenstunden mit seinem Fahrzeug auf der Autobahn bei schlechten Witterungsverhältnissen gegen die Mittelleitplanke. Unstreitig lag ein Unfallereignis mit eindeutiger Haftungslage und geringem Fremdschaden vor. Nach kurzem Anhalten und Begutachtung des entstandenen Schadens setzte der VN seine Fahrt fort. Der VR berief sich wegen E. 1.1.3 AKB auf Leistungsfreiheit.

Danach ist der VN verpflichtet, den Unfallort nicht zu verlassen,

„ohne die gesetzlich erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen und die dabei gesetzlich geforderte Wartezeit zu beachten (Unfallflucht)“.

Gewartet hatte der VN – aber hat er damit die aus E. 1.1.e resultierenden Pflichten erfüllt?

1. Das wäre nur dann nicht der Fall, wenn  E. 1.1.3 die in § 142 Abs. 2 StGB normierte Pflicht beinhaltete, nachträglich weitere Feststellungen zu ermöglichen. Aber geht die Aufklärungsobliegenheit – wie in diesem Fall vom VR eingewandt – über den Tatbestand des § 142 Abs. 1 StGB hinaus? Zunächst ist es zutreffend, dass die Regelung in E.1.1.3 AKB 2015 eine von § 142 StGB losgelöste Aufklärungspflicht begründet. Bei der Auslegung dieser Obliegenheit ist sodann auf das Verständnis eines durchschnittlichen VN abzustellen. Und wie würde ein VN ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse die Regelung in den AKB verstehen? Dieser würde davon ausgehen, dass er seine Aufklärungsobliegenheiten erfüllt hat, wenn er den Handlungspflichten aus § 142 StGB gerecht wird.  Dafür spricht ebenfalls, dass sich die Regelung in den AKB auf den Gesetzeswortlaut bezieht. Danach muss der VN nach einem Unfall die gesetzlich erforderlichen Feststellungen ermöglichen sowie die gesetzlich erforderliche Wartezeit einhalten. Schon nur aufgrund der Formulierung „gesetzlich“ wird der VN einen Bezug zu den in § 142 StGB normierten Pflichten herstellen und davon ausgehen, dass sich diese mit seinen versicherungsrechtlichen Obliegenheiten decken (Stiefel/Maier/Maier, 19. Aufl. 2017, AKB 2015 Rn. 79).

2. Nach Auffassung des BGH kann die Nichterfüllung der Pflicht nach § 142 Abs. 2 StGB eine Verletzung der Aufklärungsobliegenheit begründen (Urt. v. 21.11.2012, Az. IV ZR 97/11, BeckRS 2013, 363). Denn das Interesse des VR ist es, Unfallhergang und -ursache aufzuklären und etwaige Leistungsfreiheitsgründe festzustellen. Voraussetzung für eine solche Aufklärungsobliegenheit i.S.d. § 142 Abs. 2 StGB ist jedoch, dass für den VN aus den AKB deutlich hervorgeht, dass von ihm neben der Einhaltung der Wartezeit auch weitergehende Aktivitäten gegenüber dem VR erwartet werden. Dazu müsste geregelt sein, dass der VN, wenn er sich nach Ablauf der Wartezeit vom Unfallort entfernt hat, die erforderlichen Feststellungen gegenüber dem VR nachzuholen hat. Dies geht jedoch weder aus E.1.1.3 noch aus einer anderen Regelung der AKB hervor. Somit findet sich für die in § 142 Abs. 2 StGB vorgesehene Pflicht, die Feststellung nachträglich durch Aufsuchen der Polizei oder des Geschädigten zu ermöglichen kein Anknüpfungspunkt. Da die AKB nicht auf den gesamten § 142 StGB verweisen, sondern nahezu den identischen Wortlaut des § 142 Abs. 1 StGB wiedergeben, wäre aus Sicht eines durchschnittlichen VN eine separate Obliegenheit zu erwarten, wenn ein darüber hinausgehendes Verhalten gefordert sein würde.

3. Ferner sieht die Anzeigeobliegenheit in E.1.1.1. AKB gerade nicht vor, dass der VN den VR unverzüglich vom Eintritt eines Schadenereignisses informieren muss, sondern dieses innerhalb einer Woche anzuzeigen hat. Durch eine Gesamtschau der Obliegenheiten wird der VN ableiten, dass er den Unfallort erst nach Ablauf der Wartezeit verlassen darf, um seine versicherungsrechtlichen Obliegenheiten zu erfüllen und ihm sodann eine Wochenfrist zur Anzeige dieses Schadenereignisses gegenüber dem VR verbleibt. Im vorliegenden Fall hat der VN den Unfallort erst nach Ablauf der gebotenen Wartezeit verlassen, sodass das OLG Dresden keinen Verstoß gegen die in E.1.1.3 AKB 2015 i.V.m. § 142 Abs. 1 StGB geregelte Obliegenheit angenommen hat. Auch eine versicherungsrechtliche Pflicht zur unverzüglichen Anzeige gegenüber dem VR hat die Berufungsinstanz abgelehnt, wenn zeitgleich eine Anzeigeobliegenheit mit Wochenfrist in den AKB vorgesehen ist.

4. Stellt die Entscheidung des OLG Dresden nun ein Widerspruch zur BGH-Rechtsprechung (Urt. v. 21.11.2012, Az. IV ZR 97/11, BeckRS 2013, 363) dar? Nein, denn diese bezieht sich auf die AKB 2008 und ist wegen inhaltlicher Abweichungen zwischen den Bedingungswerken nicht auf die AKB 2015 übertragbar. Denn die AKB 2008 sahen lediglich vor, den Unfallort nicht zu verlassen, ohne die erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen, wobei es an der Bezugnahme zu den gesetzlich erforderlichen Feststellungen und damit der Regelung des § 142 StGB fehlt. Nicht ganz überzeugend ist die Argumentation unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die AKB 2008 auch die separate Anzeigeobliegenheit mit Wochenfrist enthalten. Die Entscheidung des OLG Dresden wird nun jedoch durch eine nachfolgende Entscheidung des OLG Celle (Urt. v. 25.03.2019 – 8 U 210/18, BeckRS 2019, 6998) gestärkt.

Alles in allem überzeugt die Ansicht des OLG Dresden und ist auch für die Praxis relevant, da sie im Hinblick auf die AKB 2015 klarstellt, dass sich die versicherungsrechtliche Obliegenheit auf die in § 142 Abs. 1 StGB genannten Pflichten begrenzt und eine Verpflichtung i.S.d. § 142 Abs. 2 StGB nicht vorsieht. Da es keine einheitlichen AKB gibt, sind im einzelnen Fall die jeweils zugrunde liegenden AKB zu berücksichtigen. Aus Sicht des VR wäre über eine klarstellende Ergänzung der Obliegenheit in E.1.1.3 AKB 2015 nachzudenken.

 

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