Aus dem Bauch heraus würde man wohl zu einem klaren „Ja“ tendieren. Die ganz überwiegende Rechtsprechung sieht dies jedoch anders und verneint grobe Fahrlässigkeit (vgl. BGH, Urt. v. 5.2.1974 – VI ZR 52/72, VersR 1974, 593; OLG Düsseldorf, Urt. v. 114.3.2002 – 10 U 13/01, NJW-RR 2002, 1456; OLG Saarbrücken, Urt. v. 11.12.2002 – 5 U 17/00, r+s 2003, 101; OLG Schleswig, Urt. v. 15.6.2000 – 7 U 143/99, BeckRS 2000, 30117743; OLG Koblenz, Urt. v. 11.1.2007 – 10 U 949/06, r+s 2007, 151; OLG Oldenburg, Urt. v. 16.9.1998 – 2 U 139/98, VersR 1999, 1105; OLG Karlsruhe, Urt. v. 17.2.1995 – 15 U 262/94, VersR 1996, 781; Thüringer Oberlandesgericht, Urt. v. 15.1.2003 – 4 U 725/02, OLG-NL 2003, 80).
Im Folgenden soll die Problematik nochmals an einer aktuellen Entscheidung des OLG Celle (14. Zivilsenat, Urt. v. 1.7.2020 – 14 U 8/20) illustriert werden.
Die Grundlage:
Am 14. März 2016 kam es zu einem Verkehrsunfall. Der Beklagte und gleichzeitig Führer des Fahrzeugs kam gegen 4:45 Uhr auf der B 216 außerorts aufgrund ungeklärter Ursache in den Gegenverkehr. Im Detail war der Beklagte bei Nebel mit einer Geschwindigkeit von ca. 75 km/h von der gerade
verlaufenden Fahrbahn abgekommen, in den Gegenverkehr geraten und dort frontal mit einem ihm entgegenkommenden Sattelzug kollidiert, dessen Fahrer den Unfall wiederum unstreitig nicht hatte vermeiden können. Dabei wurden zwei Beifahrer des Beklagten tödlich verletzt sowie ein weiterer Mitfahrer und der Beklagte selber schwer verletzt.
Da es sich um einen Arbeitsunfall handelte, stellte sich die Frage, ob der Beklagte den Unfall grob fahrlässig herbeigeführt hat. In diesem Fall käme ein Regress des Sozialversicherungsträgers gemäß § 110 SGB X in Betracht. Das Urteil ist aber auch in der Kaskoversicherung von Interesse, da dort bei einer grob fahrlässigen Herbeiführung des Versicherungsfalls eine (teilweise) Leistungsfreiheit des Kaskoversicherers gemäß § 81 Abs. 2 VVG in Betracht kommt.
Der Hintergrund:
Grundsätzlich erfordert die Annahme grober Fahrlässigkeit einen in objektiver Hinsicht schweren und in subjektiver Hinsicht nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Diese Sorgfalt muss dabei in ungewöhnlich hohem Maße verletzt worden sein und es muss dasjenige unbeachtet geblieben sein, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Insofern muss eine auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung vorliegen, die das in § 276 II BGB bestimmte Maß erheblich überschreitet (vgl. hierzu BGH, Urt. v. 3.11.2016 – III ZR 286/15, NJW-RR 2017, 596; BGH, Urt. v. 10.10.2013 – III ZR 345/12, NJW-RR 2014, 90; Karczewski in: Rüffer/Halbach/Schimikowski, Versicherungsvertragsgesetz, VVG § 81, Rn. 8; Looschelders in: Langheid/Wandt, Münchener Kommentar, VVG § 81, Rn. 70).
Beweisbelastet für ein erheblich gesteigertes Verschulden, also auch das Vorliegen einer groben Fahrlässigkeit, ist in vorliegendem Fall die Klägerin (vgl. Thüringer Oberlandesgericht, Urt. v. 15.1.2003 – 4 U 725/02, OLG-NL 2003, 80; Stelljes in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 57. Edition, SGB VII §110, Rn. 33). Die Klägerin ist sowohl für das Vorliegen der objektiven als auch für das Vorliegen der subjektiven Komponente der groben Fahrlässigkeit darlegungs- und beweisbelastet.
Bei einem Sekundenschlaf findet der Anscheinsbeweis für das Vorliegen von (einfachem) Verschulden Anwendung. „Für die Feststellung der personalen Seite der groben Fahrlässigkeit ist im Allgemeinen die Anwendung der Grundsätze des Beweises des ersten Anscheins nicht tauglich. Die Feststellung der groben Fahrlässigkeit erfordert jeweils die Überzeugung des Tatrichters, dass sich der Kraftfahrer über die Bedenken hinweg gesetzt hat, die sich angesichts typischer Ursachen oder deutlicher Vorzeichen der Ermüdung jedem aufdrängen musste.“ (so das Thüringer Oberlandesgericht, Urt. v. 15.1.2003 – 4 U 725/02, OLG-NL 2003, 80). Dies bedeutet, dass das Vorliegen der subjektiven Komponente stets individuell betrachtet
werden und nachgewiesen werden muss. Auch genügt es nicht, wie vom OLG Frankfurt/M. (Urt. v. 26.5.1992 – 8 U 184/91, NZV 1993, 32) und vom OLG Hamm (Urt. v. 5.11.1997 – 20 U 99/97, VersR 1998, 1276) dargestellt, sich auf den Erfahrungssatz, die dem Einschlafen vorhergehenden Vorzeichen seien immer so deutlich, dass ihr Verkennen dem Fahrer schon zum groben Verschulden gereicht, zu beziehen (vgl. hierzu Thüringer Oberlandesgericht, Urt. v. 15.1.2003 – 4 U 725/02, OLG-NL 2003, 80).
Die Instanzgerichte kommen bei sehr ähnlicher Begründung i.d.R. zum gleichen Ergebnis, nämlich, dass ein Sekundenschlaf nur dann als grob fahrlässig zu bewerten ist, wenn der Fahrer sich über von ihm erkannte deutliche Vorzeichen der Ermüdung bewusst hinweggesetzt hat. Auch der BGH äußerte sich dahingehend, dass die Feststellung, dass ein Kraftfahrer durch „Einnicken“ am Steuer einen Unfall verschuldet hat, für sich allein noch keine Rechtfertigung für das Urteil grober Fahrlässigkeit darstelle. Dafür bedürfe es vielmehr jeweils einer besonderen Begründung.
Die Entscheidung:
Das OLG Celle argumentiert in vorliegendem Fall ähnlich. Grundsätzlich sei der Klägerin darin zuzustimmen, dass vorliegend einiges für einen Sekundenschlaf des Beklagten als Unfallursache spreche, weil er nach den glaubhaften Aussagen der Zeugen ohne zu bremsen oder auszuweichen quasi in Zeitlupe in den Gegenverkehr geraten und dort mit dem Sattelzug kollidiert sei. Hiervon seien auch die Polizei und die Staatsanwaltschaft ausgegangen und der Beklagte habe dies im Strafverfahren auch akzeptiert. Selbst wenn man einen Sekundenschlaf des Beklagten annähme, führe dies nicht ohne weiteres zur Bejahung grober Fahrlässigkeit. Objektiv dürfte der Beklagte dann zwar grob fahrlässig gehandelt haben, vor allem weil auch der BGH bereits vor Jahren entschied, dass nach dem Stand der ärztlichen Wissenschaft der Erfahrungssatz bestehe, dass ein Kraftfahrer, bevor er am Steuer seines Fahrzeugs während der Fahrt einschlafe, stets deutliche Zeichen der Ermüdung an sich wahrnehme oder wenigstens wahrnehmen könne (vgl. hierzu BGH, Beschluss v. 18.11.1969 – 4 StR 66/69, Leitsatz und Rn. 38). Jedoch bedarf es, nach dem OLG Celle, ebenfalls der Feststellung eines in subjektiver Hinsicht nicht entschuldbaren Verstoßes gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt zur Annahme eines grob fahrlässigen Verhaltens. Ein leichtes Einschlafen begründe nach der Rspr. des BGH deshalb nur dann den Vorwurf eines leichtfertigen Handelns, wenn sich der Fahrer bewusst über von ihm erkannte Anzeichen einer Übermündung hinweggesetzt habe (vgl. hierzu BGH, Urt. v. 31.2.2007 – I ZR 166/04, MDR 2007, 1383; OLGR Rostock 2009, 115 (117); OLG Koblenz, Beschl. v. 8.6.2006 – 10 U 1161/05, VersR 2007, 57). Dies muss positiv festgestellt werden, denn wie oben stehend gelten die Regeln des Anscheinsbeweises insoweit nicht. Es wird also die objektive Komponente der groben Fahrlässigkeit bejaht, jedoch die subjektive Komponente nicht.
Vorliegend lässt sich nicht aufklären, ob der Beklagte objektive Übermüdungsanzeichen ignoriert oder sich bewusst hierüber hinweggesetzt hat. Der Beklagte selbst bestreitet, überhaupt eingeschlafen zu sein. Der Beifahrer, der den Unfall überlebt hat, kann auch keine Aussage über etwaige Übermüdungszeichen beim Beklagten treffen, da er selbst geschlafen habe. Im Ergebnis kommt das OLG Celle zum Schluss, dass sich die gemäß § 286 ZPO erforderliche Überzeugung, die ein subjektiv grob fahrlässiges Verhalten bejahen ließe, nicht abbilden lasse.
Des Weiteren zieht das Gericht auch in Betracht, dass der Beklagte auf die Gegenfahrbahn geraten sein könnte, weil er infolge der Fahrbahnsenke sowohl die Lichter aus dem Gegenverkehr als auch die Rückleuchten der vorausfahrenden Fahrzeuge aus den Augen verloren habe und somit kurzzeitig orientierungslos gewesen sein könnte. Dies wäre also ebenfalls nicht völlig unentschuldbar.
Zusätzlich führt das Gericht an, dass auch die Dauer des Sekundenschlafs vorliegend nicht für einen subjektiv unentschuldbaren Sorgfaltsverstoß spreche. Hierfür sei die Strecke, die der Beklagte bis zur Kollision mit dem Lkw auf der Gegenspur zurückgelegt hat, bei einer zweispurig ausgebauten Landstraße zu kurz, da der Beklagte lediglich eine Fahrbahnhälfte gekreuzt habe.
Die Perspektive:
Es wird auch zukünftig so sein, dass jeder Fall individuell und in seinen Einzelheiten zu prüfen sein wird. Anhand dieses Beispiels werden auch nochmals die erforderlichen Anforderungen an das Vorliegen einer groben Fahrlässigkeit im Detail verdeutlicht. Insbesondere der Unterschied zwischen objektiver und subjektiver grober Fahrlässigkeit wird deutlich. Deutlich wird auch, dass stets beide Komponenten zu prüfen sind und die Bejahung einer Komponente nicht automatisch die Bejahung einer anderen Komponente nach sich zieht.
Die Ausführungen des OLG Celle lassen sich auch problemlos auf die Kaskoversicherung übertragen, da dort bei grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalles entsprechend § 81 Abs. 2 VVG ebenfalls eine Leistungskürzung oder sogar Leistungsfreiheit in Betracht kommen kann.