Kölner Versicherungsspitzen XXXI Von toten Truthähnen und höchst lebendigen Schwänen

Der Psychologe Gerd Gigerenzer beschreibt in seinem lesenswerten Buch „Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft“ anhand der sogenannte Truthahnillusion, wie riskant es sein kann, sich an vorhandenen Zuständen oder bestehenden Trends zu orientieren. Der Truthahn, der seinen Züchter bisher nur in Zusammenhang mit der täglichen Fütterung kennt, fühlt sich jeden Tag sicherer, dass der Züchter auch am Folgetag wieder Gutes für ihn bringt. Allerdings kennt der Truthahn den Thanksgiving-Tag noch nicht …
Der Truthahn hat die Gültigkeit seiner erlernten Regel überschätzt und daraus eine falsche Vorhersage für die Zukunft getroffen. Ebenso geht es den meisten von uns – auch wir Menschen neigen dazu, das Ausmaß zu überschätzen, in dem wir die Vergangenheit verstehen („Illusion des Verstehens“) und auf Basis dieses Wissens die Zukunft vorhersagen können („Illusion der Gültigkeit“).

Unter Kenntnis der richtigen Rahmenbedingungen hätte der Truthahn sein Prognosemodell durchaus anpassen können und sein Schicksal korrekt vorhersagen können. Während der Truthahn davon aber wohl kaum profitiert hätte, sondern sein kurzes Leben höchstens noch mit Depressionen belastet hätte, überleben wir die meisten unserer Fehleinschätzungen und können daraus lernen – zumindest theoretisch – indem wir die Rahmenbedingungen unseres Modells erweitern und auch mögliche extreme Änderungen der zugrundeliegenden Parameter einbeziehen.
Im positivsten Fall mündet dieses Lernen in Instrumenten, die unterschiedlichste Parameter und Szenarien berücksichtigen. „Stresstests“ sollen auf Basis historischer Erfahrungen oder hypothetisch erwarteter Ereignisse die Stabi-lität und Widerstandsfähigkeit von Unterneh-men oder Institutionen abschätzen und diese so auszurichten, dass sie solche Szenarien mit bestimmten (hohen) Wahrscheinlichkeit überstehen können. Die Stressszenarien der EIOPA beispielsweise berücksichtigen die Entwicklung von Zinsen und Börsenkursen, von demographischen Faktoren sowie von Naturkatastrophen, und decken damit einen wesentlichen Teil möglicher Risiken ab.

Die aktuelle Corona-Krise zeigt einerseits die Bedeutung solcher Risikostrategien, anderer-seits aber auch deren Grenzen, weil sie immer noch auf Ereignisse mit einer gewissen Wahr-scheinlichkeit oder zumindest Erwartbarkeit abzielen. Der Börsenhändler Nassim Taleb (auf den sich auch Gigerenzer mit seiner Truthahnillusion bezieht) hat in seinem bekannten Werk „Der Schwarze Schwan“ auf die oft extremen Konsequenzen von unerwarteten Ereignissen hingewiesen. Die „schwarzen Schwäne“, die schon bei Popper als Beispiel der Falsifizierung induktiver Verallgemeinerungen herangezogen werden, dienen als Metapher für solch überraschende Ereignisse, die im Einzelnen zwar nur eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit aufweisen, in der Summe dann aber doch häufig unser Leben auf den Kopf stellen.
Nun lässt sich im Einzelfall – aktuell zu Corona – trefflich darüber streiten, ob es sich um einen schwarzen Schwan handelt, oder ob das Ereignis nicht doch vorhersehbar war oder sogar vorhergesehen wurde. Bei einzelnen Akteuren – darunter bekannterweise Bill Gates – war das sicherlich der Fall, und auch manche Risikomodelle beziehen explizit Pandemien mit ein. Aber Hand aufs Herz: Die meisten von uns gehörten wohl nicht dazu und hätten sich weder privat noch beruflich träumen lassen,wie ihr Leben sich in kürzester Zeit durch eine Pandemie ändern würde. Und diejenigen, die meinen, vorausschauender gewesen zu sein, mögen sich fragen, ob sie nicht eher Opfer einer in der Psychologie als Rückschaufehler bezeichneten Verzerrungstendenz sind, nach der man seine eigene Voraussicht im Nachhinein überschätzt.
Selbst in der historisch gesehen kurzen Zeit-spanne meines „Erwachsenseins“ gab es bereits eine ganze Reihe solcher – zumindest subjektiv gesehen höchst überraschend eintretender – „Schwarzer Schwäne“, wie zum Beispiel das Aufkommen von Aids Anfang der achtziger Jahre, Tschernobyl, der Zusammenbruch des Ostblocks, der große Tsunami von 2004 (Sie erinnern sich: das Wort mussten wir damals erst einmal im Lexikon nachschlagen), 9/11 oder nun eben die aktuelle Corona-Pandemie. Dazu kommen eine ganze Reihe von meist ebenso überraschenden Wirtschafts- und Finanzkrisen. Alle diese Ereignisse haben die Welt zumindest kurzfristig, manche aber auch dauerhaft verändert.
Wenn wir ein solches Ereignis nun in unsere zukünftigen Szenarien mit aufnehmen, dann werden diese zwar ein Stückchen weit besser, sind danach aber immer noch fast genauso unvollständig, weil ja nur jeweils ein einzelner Schwarzer Schwan eliminiert wurde. Was ist zum Beispiel mit einem großen Kometeneinschlag, wie er zumindest alle paar hunderttau-send Jahre zu erwarten ist, einem verheeren-den Vulkanausbruch wie einst in der Antike auf Santorini, eines dank hoher Ansteckungsquote und hoher Sterblichkeit noch weitaus ge-fährlicheren Virus als SARS-CoV-2, oder auch einfach dem Ende der Demokratie dank Trump & Co.? Vielleicht fallen Ihnen ja auch einige positive Ereignisse ein, die eine ebensolche Durchschlagkraft entfalten (die Pille gegen das Altern, die Rückkehr des Messias …)?
Die Lehren daraus sind: Unsere Prognosen machen Sinn, decken aber immer nur einen Ausschnitt der möglichen Entwicklungen ab. Szenariodenken und Stresstests können helfen, bleiben aber ebenso unvollständig. Vielleicht hilft das Erleben schwarzer Schwäne uns aber, etwas weniger Vertrauen in unsere Zukunftserwartungen zu haben, und uns stattdessen mehr mit der Ungewissheit zu arrangieren.

In diesem Sinne zeigt sich übrigens der typische Kölner dem Truthahn und den meisten seiner Mitmenschen hoch überlegen. Verzichtet er doch traditionell auf Prognosen („et kütt wie et kütt“), und bleibt dennoch zuversichtlich („et hätt noch emmer joot jejange“). Und wenn das nichts nutzt, verfügt er über hochwirksame psychische Bewältigungsstrategien wie „et bliev nix wie et wor“, „wat fott es, es fott“ und „wat wells de maache“?
Wie recht er damit hat, zeigt eine etwas längerfristige Prognose der Astrophysik, wonach sich in etwa einer Milliarde Jahre die Sonne vergrößert und die Erde unbewohnbar macht. Wenn Elon Musk uns bis dahin nicht mit seinem Unternehmen SpaceX in ein anderes Sonnensystem verfrachtet hat, werden wir also spätestens dann unser kollektives „Thanksgiving“ erleben. Solange fließt aber noch eine Menge Wasser den Rhein runter – bleiben Sie also gesund und lassen Sie sich nicht von Schwarzen Schwänen entmutigen!

Ihr Horst Müller-Peters

PS: Die Truthahnillusion lässt sich am Ende übrigens auch auf unsere Hochschule und unser Institut übertragen. Ich persönlich hätte jedenfalls niemals geglaubt, dass sich die digitale Lehre in so kurzer Zeit so dramatisch fortentwickeln könnte – eine Entwicklung, die sich sicherlich auch auf die Zeit „nach Corona“ auswirken wird.